Begriff "Thermofenster"
Ein Begriff, der im Zusammenhang mit Diesel-Fahrzeugen immer wieder auftaucht, sind "Thermofenster". Damit ist der Außentemperaturbereich gemeint, außerhalb dessen Teile der Emissionsminderung (falsch: "Abgasreinigung", siehe Abgasrückführung ist keine Abgasreinigung) nicht oder nicht vollständig arbeiten.
Der Begriff "Thermofenster" klingt zwar so, als ob er sich auf alle möglichen Arten von Temperaturfenstern bezieht (Beispiel: AdBlue-Einspritzung benötigt mindestens etwa 180°C Abgastemperatur), er wird aber zumindest in der Berichterstattung zu diesem Thema immer auf die Steuerung des Emissionsminderungssystems anhand der Außentemperatur bezogen.
Gesetzliche Regelungen und Urteile
Für die weiteren Betrachtungen muss man unterscheiden, ob man von Thermofenstern in der Abgasrückführung spricht, oder von Thermofenstern in der Abgasreinigung (d.h. Regeneration eines NOx-Speicherkatalysators oder Freigabe der AdBlue-Einspritzung):
- Für die Abgasrückführung (keine Abgasreinigung) gab es keine expliziten Vorschriften, die konkrete Temperaturen nennen. Allgemein fordert die Abgasverordnung aber, dass Fahrzeuge so konstruiert werden, dass die Emissionsgrenzwerte unter normalen Betriebsbedingungen eingehalten werden.
- Für Stickoxid-Nachbehandlungssysteme ("Abgasreinigung") gab es dagegen schon in der Verordnung 692/2008 [8] aus dem Jahr 2008 Vorschriften, die konkrete Temperaturvorgaben machen:
- Bei -7°C muss ein NOx-Nachbehandlungssystem 400 Sekunden nach Kaltstart ausreichend warm für einen sicheren Betrieb sein
- AdBlue-Systeme müssen so konstruiert sein, dass sie bei allen auf dem Gebiet der europäischen Union regelmäßig auftretenden Temperaturen funktionieren
- Wurde ein Fahrzeug so lange bei -15°C geparkt, dass der AdBlue-Tank durchgefroren ist, und dass die Kerntemperatur ebenfalls bei -15°C liegt, muss 20 Minuten nach Fahrtbeginn bei -15°C flüssiges AdBlue verfügbar sein
Die genauen Textstellen in der 692/2008 lauten:
Bei der Beantragung einer Typgenehmigung belegen die Hersteller der Genehmigungsbehörde jedoch, dass die NOx-Nachbehandlungseinrichtung nach einem Kaltstart bei –7 °C innerhalb von 400 Sekunden eine für das ordnungsgemäße Arbeiten ausreichend hohe Temperatur erreicht, wie in der Prüfung Typ 6 beschrieben.
und
Der Hersteller muss gewährleisten, dass das Emissionsminderungssystem unter allen auf dem Gebiet der Europäischen Union regelmäßig anzutreffenden Umgebungsbedingungen und insbesondere bei niedrigen Umgebungstemperaturen seine Emissionsminderungsfunktion erfüllt. Dies umfasst auch Maßnahmen gegen das vollständige Einfrieren des Reagens bei einer Parkdauer von bis zu 7 Tagen bei 258 K (–15 °C) und 50 %iger Tankfüllung. Ist das Reagens gefroren, muss der Hersteller gewährleisten, dass es innerhalb von 20 Minuten, nachdem das Fahrzeug bei einer im Reagensbehälter gemessenen Temperatur von 258 K (–15 °C) angelassen wurde, zur Verwendung bereitsteht, damit das Emissionsminderungssystem ordnungsgemäß arbeiten kann.
Generell gelten für Thermofenster die gleichen Vorschriften wie für andere Merkmale von Emissionsminderungssystemen, die deren Wirkung verringern, d.h. sie sind zulässig, wenn
- sie zur Vermeidung plötzlicher Schäden nötig sind
- sie nur während des Motorstarts aktiv sind
- die Emissionsgrenzwerte trotzdem eingehalten werden.
Diese Vorschrift ist in der 715/2007 [11] zu finden:
(2) Die Verwendung von Abschalteinrichtungen, die die Wirkung von Emissionskontrollsystemen verringern, ist unzulässig. Dies ist nicht der Fall, wenn:
a) die Einrichtung notwendig ist, um den Motor vor Beschädigung oder Unfall zu schützen und um den sicheren Betrieb des Fahrzeugs zu gewährleisten;
b) die Einrichtung nicht länger arbeitet, als zum Anlassen des Motors erforderlich ist;
c) die Bedingungen in den Verfahren zur Prüfung der Verdunstungsemissionen und der durchschnittlichen Auspuffemissionen im Wesentlichen enthalten sind.
Das Landgericht Stuttgart hat im Urteil zum Aktenzeichen 7 O 265/18 [9] sinngemäß folgendes entschieden: Der Verordnungsgeber habe in der 692/2008 definiert, dass Stickoxid-Nachbehandlungssysteme bei -7°C innerhalb von 400 Sekunden betriebswarm sein müssen. Offensichtlich hat der Verordnungsgeber beabsichtigt, eine Regulierung zu schaffen, bei der Abgassysteme auch bei niedrigen Außentemperaturen funktionieren. Daher könne man davon ausgehen, dass der Verordnungsgeber nicht im Sinne hatte, Thermofenster in der Abgasrückführung als Normalfall zu erlauben, erst recht nicht, wenn die Wirksamkeit bereits bei unter +15°C nachlässt.
Mit der gleichen Logik, die das Landgericht Stuttgart verwendet kann, kann man folgendes schlussfolgern: Der Verordnungsgeber hat in der 692/2008 definiert, dass ein AdBlue-System in der Lage sein muss, innerhalb von 20 Minuten bei -15°C flüssiges AdBlue zur Verfügung zu stellen. Diese Vorschrift macht nur dann Sinn, wenn der Verordnungsgeber damit beabsichtigt hat sicherzustellen, dass das System prinzipiell bei -15°C arbeitet, wenn auch erst nach einer gewissen Anlaufzeit. Der Verordnungsgeber kann aber nicht im Sinn gehabt haben, eine komplette außentemperaturgesteuerte Abschaltung bereits bei -15°C zuzulassen.
Im November 2022 urteilte der europäische Gerichtshof [10]:
Eine Software für Dieselfahrzeuge, die die Wirkung des Emissionskontrollsystems bei üblichen Temperaturen und während des überwiegenden Teils des Jahres verringert, stellt eine unzulässige Abschalteinrichtung dar
Witzigerweise glauben viele Journalisten, Thermofenster seien illegal, obwohl sich der Gerichtshof hier ausdrücklich nur auf solche (engen) Thermofenster bezieht, die dafür sorgen, dass das Emissionsminderungssystem bei üblichen Temperaturen und während des überwiegenden Teils des Jahres nicht funktioniert. Das Urteil verbietet aber weder breite Thermofenster, noch verbietet es, dass ein Fahrzeug im Winter mit geringerer AGR-Rate und höherem AdBlue-Verbrauch arbeitet. An dieser Stelle möchte ich auf meine Analyse des Thermofensters der Abgasrückführung des VW EA288 evo mit Euro 6d verweisen, denn dieser Motor funktioniert ab -15°C bei niedriger Motorlast genau so.
Bei Fahrzeugen mit Typgenehmigung ab 2023 dürfen Behörden wie das KBA im Regelfall keine Thermofenster mehr genehmigen, die bereits bei -4°C die AGR-Rate reduzieren sollen [7] (Tabelle 7 "Beispiele für unzulässige zusätzliche Emissionsstrategien"). Der Fahrzeughersteller müsste stattdessen die AGR-Rate im gesamten Temperaturbereich reduzieren, so dass es sich nicht mehr um ein Thermofenster handelt. Macht er das, muss er aber möglicherweise das SCR-System leistungsfähiger machen, damit die Emissionsgrenzwerte trotzdem eingehalten werden. Generell wird inzwischen immer ein direkter physikalischer Zusammenhang gefordert. Beispielsweise ist die Steuerung eines AdBlue-Systems anhand der Außentemperatur einfach nicht nötig, abgesehen davon, dass die Heizung der AdBlue-Leitungen nur bei Kälte eingeschaltet werden muss. Zwar wird eine gewisse Katalysator- und Abgastemperatur benötigt, aber beides kann man messen. Die Außentemperatur kann zwar dafür sorgen, dass die Aufwärmphase etwas länger dauert, vor allem, wenn der Tank gefroren ist, trotzdem kann die Bewertung durch die Software anhand der Katalysator- und der Abgastemperatur sowie der Temperatur im AdBlue-Tank erfolgen.
Bestimmungsgemäßer Gebrauch
Emissionsminderungssysteme müssen bei bestimmungsgemäßem Gebrauch funktionieren. Aber was bedeutet das? Das lässt sich am einfachsten erklären, wenn man ein Beispiel für nicht bestimmungsgemäßen Gebrauch zeigt:
Die Abgasverordnung fordert, wie oben beschrieben, dass NOx-Nachbehandlungssysteme von Dieselfahrzeugen, also NOx-Speicherkatalysatoren oder das SCR-System, bei -7°C Kaltstarttemperatur nach 400 Sekunden ausreichend warm für einen sicheren Betrieb sind. Gilt das auch beim Warmlaufen lassen? Nein, denn Warmlaufen lassen ist aus Umweltschutzgründen verboten und daher kein bestimmungsgemäßer Gebrauch.
Trotzdem liefert diese Klausel eine wichtige Information: Wenn ein solches System 400 Sekunden nach einem Kaltstart bei -7°C betriebswarm sein muss, dann ist es sehr schwierig, eine Argumentation zu finden, warum die AdBlue-Einspritzung bereits bei einer Außentemperatur von -7°C (oder größerer Wärme) abgeschaltet werden darf, zumal ich weiter oben schon eine Vorschrift zitiert habe, die das geforderte Verhalten bei -15°C beschreibt.
Tatsächlich identifizierte Thermofenster
In einigen Fahrzeugen wurden Thermofenster identifiziert, die zu eng sind, d.h. die Außentemperatur liegt häufig außerhalb des Bereichs, in dem das Emissionsminderungssystem normal funktioniert:
- Die Deutsche Umwelthilfe hat bei einer Mercedes C-Klasse, Euro 6b, gezeigt, dass bereits bei +5°C die Wirksamkeit des SCR-Systems stark reduziert ist [1].
- Die Deutsche Umwelthilfe hat bei einem Volvo XC60, Euro 5, gezeigt, dass die Abgasrückführung bei -4°C nicht mehr arbeitet [2] (hier wird der Begriff der Abgasreinigung wieder einmal falsch verwendet).
- Es gibt mehrere Berichte darüber, dass VW EA189-Motoren (Euro 5) mit Software-Update bei -10°C die Abgasrückführung komplett abschalten, aber auch schon bei deutlich höheren Außentemperaturen außentemperaturgesteuert die AGR-Rate reduzieren.
- Für einen Opel wurde 2016 nachgewiesen, dass das SCR-System nur von ca. +17°C bis +33°C arbeitet [4]
Bei den allermeisten Euro 5 - Fahrzeugen ist noch wichtig zu erwähnen, dass sie über kein SCR-System verfügen. Wird die AGR-Rate reduziert, steigen mit der Stickoxid-Produktion sofort die Stickoxid-Emissionen deutlich an. Wäre dagegen ein SCR-System vorhanden und würde der AdBlue-Verbrauch bei niedrigen Außentemperaturen entsprechend der höheren Stickoxid-Produktion steigen, wäre das in Ordnung. Das Emissionsminderungssystem wäre dann ja weiterhin wirksam.
Weitere Fenster
Neben Thermofenstern wurden weitere Fenster gefunden, jedoch zum Teil falsch bewertet. Zum Beispiel wurde behauptet, dass eine Verringerung der Abgasrückführung in großer Höhe eine illegale Abschalteinrichtung sei.
So einfach ist es aber nicht. Zunächst einmal ist allgemein bekannt, dass für jede Verbrennung Sauerstoff benötigt wird. Das gilt auch für die Verbrennung von Kraftstoff. Die Abgasrückführung führt sauerstoffarmes Abgas zurück in den Brennraum und verringert so den Anteil von Sauerstoff in der Luft im Motor. Durch den geringeren Sauerstoffanteil sinkt die Verbrennungstemperatur, und damit die Stickoxid-Produktion. In großer Höhe ist jedoch die Luft dünner, d.h. es befindet sich auch insgesamt weniger Luft im Motor, und damit auch weniger Sauerstoff. Um trotzdem ausreichend Sauerstoff im Motor zu haben, darf also nur weniger Abgas zugemischt werden. Eine Abhängigkeit der Abgasrückführung vom Luftdruck, und damit auch von der Höhe über Normalnull, ist also völlig normal.
Ähnliches gilt für die Drehzahl des Motors: Die DUH hat einmal behauptet, die Abgasrückführung dürfe bei 3500/min nicht abgeschaltet werden. Sie hat sogar einmal den falschen Eindruck erweckt, als sei eine so hohe Drehzahl für Dieselmotoren ein normaler Betriebszustand [6]. Dabei wird erwähnt, dass das Testfahrzeug im 5. Gang bei 112 km/h diese Drehzahl habe. Es wurde jedoch vergessen zu erwähnen, dass das Fahrzeug deutlich mehr als 5 Gänge hat. Um es noch einmal klar zu sagen: Stark erhöhte Emissionen bereits bei NEFZ+10% sind verdächtig. Eine AGR-Abschaltung bei 3500/min ist nicht verdächtig, und 3500/min ist eine bei Dieselmotoren selten auftretende Drehzahl.
Anders verhält es sich bei AdBlue-Systemen: Die chemischen Reaktionen bei der Verdampfung von AdBlue und bei der Reaktion von Ammoniak und Stickoxiden im SCR-Katalysator haben wenig mit Sauerstoff zu tun. Zwar ist Sauerstoff für die chemischen Reaktionen nötig, entsprechende Laborexperimente zeigen jedoch, dass ein Sauerstoffanteil von 2 Prozent im Abgas völlig ausreicht. Eine plausible Erklärung, warum das AdBlue-System einem Höhenfenster (genauer: Luftdruck-Fenster) unterliegen sollte, wie es bei Opel unter [4] identifiziert wurde, ist mir nicht bekannt. Zwar ist eine Verschlechterung der Funktion bei sehr hohem Kraftstoffdurchsatz (gemessen in Litern pro Stunde) normal, eine Komplettabschaltung wäre aber auch hier technisch schwer zu begründen.
Die eigentliche Frage ist in allen Fällen die gleiche: Darf das Abgassystem eines Fahrzeugs so knapp ausgelegt sein, dass es nur unter Idealbedingungen ausreichend leistungsfähig ist? Darf es so knapp ausgelegt sein, dass es bei der in 1.000 Metern Höhe normalen, erwartbaren Verschlechterung die Emissionsgrenzwerte bereits deutlich überschreitet? Gerichte sagen dazu: Nein. Wahrscheinlich hätte bereits bei Euro 5 flächendeckend ein AdBlue-System eingesetzt werden müssen. In großer Höhe wäre dann, bei reduzierter Abgasrückführung, einfach der AdBlue-Verbrauch höher gewesen.
Und Euro 4?
Siehe hierzu den Artikel Analyse mittels VCDS - Teil 3: EA188 im Winter
Das Auslesen von Daten eines einzigen Fahrzeugs lässt natürlich so noch keine Verallgemeinerung zu, aber die Erkenntnis passt dazu, dass Euro 4 - Diesel-PKW im Flottendurchschnitt weniger Stickoxide ausstoßen als Euro 5 - Fahrzeuge [3]: Bei niedrigen Außentemperaturen würden sie, falls sich meine Ergebnisse verallgemeinern lassen, eine viel geringere Verschlechterung gegenüber sommerlichen Bedingungen zeigen als viele Euro 5 - Fahrzeuge.
Externe Links
[1] Dramatische Erhöhung der giftigen Stickoxid-Emissionen bei herbstlichen Außentemperaturen: Mercedes C-Klasse 250 d schmutziger als 25 Jahre alter Diesel-Pkw (Quelle: DUH, abgerufen: 27.02.2021)
[2] Dieselgate erreicht Volvo: Abgasmessungen der Deutsche Umwelthilfe zeigen illegale Abschaltung der Abgasreinigung bei einem Euro 5 Diesel-Volvo XC60
[3] Stickoxid-Belastung durch Diesel-Pkw noch höher als gedacht (Quelle: Umweltbundesamt, abgerufen: 27.02.2021)
[4] Software Defined Emissions A hacker’s review of Dieselgate (abgerufen: 13.03.2022)
[5] https://curia.europa.eu/jcms/upload/docs/application/pdf/2022-11/cp220176de.pdf
[6] Dieselgate erreicht BMW: Abgasmessungen bei einem BMW 320d zeigen klare Indizien für Abschalteinrichtungen (Quelle: DUH, abgerufen: 19.11.2022))
[9] Urteil zum Aktenzeichen 7 O 265/18 des Landgerichts Stuttgart
[10] https://curia.europa.eu/jcms/upload/docs/application/pdf/2022-11/cp220176de.pdf
[11] Verordnung 715/2007